Robert Jungk

Robert Jungk errichtete in der Werkstatt Kassel 1978 eine Zukunfts-Werkstatt.

Zitate von Robert Jungk,
Vordenker und Erfinder der Zukunftswerkstätten.

1970
Wollen wir men­schlichere, lebendi­gere, pro­duk­ti­vere Leben­sum­stände schaf­fen — und dies ist die große Auf­gabe für die kom­menden Jahrzehnte — dann ist das Erfind­en, Durch­denken und exper­i­mentelle Durch­spie­len möglich­er, wün­schbar­er, human­er Zukün­fte von erstrangiger Bedeu­tung. Wir soll­ten Werk­stät­ten und Probe­büh­nen schaf­fen, in denen die “Welt von mor­gen” in ersten Strichen skizziert, kri­tisiert, in verbessert­er Form mod­el­liert, aber­mals disku­tiert und der­art auf vielfache Weise dargestellt wer­den kön­nte. Ohne Furcht vor Inter­essen­verbindun­gen, ohne Bindung an Rou­tine und falsche Vor­sicht­en, ohne jede “Vernün­ftigkeit”, die sich stets am schon Gewussten, schon Gekon­nten ängstlich ori­en­tiert und so zur Unver­nun­ft wird.

In: Son­der­beilage der Salzburg­er Nachricht­en, 25.7.1970


1973
Phan­tasie, Intu­ition und Schöpfer­kraft — seit Jahrtausenden isoliert und gefan­gen in “Kunst­werken” — soll­ten aber endlich befre­it wer­den, damit ihre Ausstrahlung der Gesellschaft zugute käme. Ein solch­er Durch­bruch ins soziale Geschehen wäre eine echt rev­o­lu­tionäre Auf­gabe der Phan­tasiebe­gabten, die mehr sein wollen als nur Her­steller von Kun­st­pro­duk­ten.

So müssten zum Beispiel “Erfind­un­gen für die Demokratie” dort ein­set­zen, wo sich das alte, nun­mehr mehrere Jahrhun­derte alte, Mod­ell des Par­la­men­taris­mus als beson­ders unzure­ichend erwiesen hat, näm­lich bei dem Ver­hält­nis zwis­chen Wäh­lern und Gewählten, zwis­chen Regierten und Regieren­den. Durch die enorme Zunahme der Bevölkerung bei etwa gle­ich­bleiben­der Zahl der Volksvertreter, durch das noch deut­lichere Ansteigen der öffentlichen Prob­leme bei wach­sender Machtvol­lkom­men­heit pri­vater Inter­essen ist demokratis­che Mitwirkung zu spo­radis­ch­er und ober­fläch­lich­er “Akkla­ma­tion” (Haber­mas) wei­thin undurch­sichtiger Entschei­dun­gen degener­iert. Der soziale Erfind­er hätte zu fra­gen, wie ver­lorene Nähe (und damit auch Inter­esse), notwendi­ge Häu­figkeit der Mit­sprache und größt­mögliche Trans­parenz wieder­hergestellt wer­den kön­nte. Er sollte Möglichkeit­en ver­mehrter und verbessert­er Infor­ma­tion eben­so in seine Konzepte hinein­ver­ar­beit­en wie Mod­elle verbessert­er “feed­backs” oder möglich­er (aber auf das Ganze abges­timmter) Dezen­tral­i­sa­tion entwick­eln. Er hätte angesichts des schnellen Tem­pos der äußer­lichen Verän­derun­gen Vorstel­lun­gen über ungle­ich flex­i­blere, offenere, zu schnelleren und spon­ta­nen Reagieren fähige Ein­rich­tun­gen der Exeku­tive wie Leg­isla­tive zu entwick­eln.

Das demokratis­che Entwer­fen von Zukün­ften erweist sich der­art als ein her­vor­ra­gen­des päd­a­gogis­ches Mit­tel gegen poli­tis­che Gle­ichgültigkeit, deren Ursache — wie sich jet­zt erken­nen lässt — zu einem beträchtlichen Teil darin zu suchen ist, dass die meis­ten zu wenig an der aktiv­en Entwick­lung gesellschaftlich­er Gedanken und poli­tis­ch­er Strate­gien beteiligt wer­den. Sie sind eben auch auf dem Gebi­et der gesellschaftlichen Auseinan­der­set­zun­gen in die pas­sive Rolle des “Kon­sumenten”, der “Mit­mach­er”, der “Mitläufer” gedrängt wor­den. Und zwar selb­st dann, wenn die poli­tis­chen For­ma­tio­nen, denen sie beige­treten waren, sich demokratis­che Ziele setzen.

In: Die Entwick­lung sozialer Phan­tasie als Auf­gabe der Zukun­fts­forschung. Dieter Pforte u. Olaf Schwenke (Hg.): Ansicht­en ein­er kün­fti­gen Futur­olo­gie. 1973, S. 125, 127, 132 f.

 

1973
… beson­dere Anforderun­gen …, die an den Men­schen der Jahrtausendwende gestellt werden:

  • eigene Urteil­skraft, Phan­tasie, Über­sicht und Voraus­sicht, um den kom­plex­en indi­vidu­ellen und kollek­tiv­en Krisen­si­t­u­a­tio­nen begeg­nen zu können;


  • geistige Beweglichkeit und Fähigkeit­en zur Verän­derung, um dem schnellen Wan­del gewach­sen zu sein;


  • Tol­er­anz und Sol­i­dar­ität, um in ein­er Zeit vervielfachter Bevölkerungs­men­gen ein friedlich­es Zusam­men­leben zu ermöglichen.

… Eine “humane Rev­o­lu­tion”, die danach strebt, die Phan­tasie zu aktivieren und die in jedem einzel­nen Men­schen vorhan­de­nen Möglichkeit­en zu entwick­eln, wäre imstande, am Ende des zwanzig­sten Jahrhun­derts erst­mals die Voraus­set­zun­gen dafür zu schaf­fen, dass Demokratie mehr als ein Schlag­wort bedeutet. Erst jet­zt begin­nt die Massen der Bevölkerung allmäh­lich jenen Mut zum Urteil und zur Kri­tik zu entwick­eln, den frühere Rev­o­lu­tio­nen zu Unrecht als selb­stver­ständlich voraus­ge­set­zt haben. Man unter­schätzte lange, wie sehr Abhängigkeit und Gehor­sam, Herrschen und Befohlen­wer­den in Jahrtausenden men­schlich­er Geschichte zur Gewohn­heit wur­den. Die Demokratie hat daher noch kaum begonnen.

… Die Erfind­ung und Entwick­lung gerechter und human­er demokratis­ch­er Ein­rich­tun­gen wird eine der Haup­tauf­gaben des Men­schen der Jahrtausendwende sind. Gutin­formierte und öffentlichkeits­fre­undliche Per­sön­lichkeit­en wer­den sich in kom­menden Jahren immer öfter zusam­menset­zen und darüber berat­en, wie aus der “Demokratie der Akkla­ma­tion” eine “Demokratie der Teil­nahme” wer­den könnte.

In: Der Jahrtausend­men­sch. 1973, S. 125, 148f., 158,

1978
Wir soll­ten uns von der faszinieren­den und angst­machen­den Infor­ma­tions­flut abwen­den und diejeni­gen ins Auge fassen, die sich von ihr bedrängt fühlen: die Men­schen. Bish­er hat man gefragt: Sind die men­schlichen Fähigkeit­en nicht zu ger­ing, um dem expo­nen­tiellen Wach­s­tums der Ken­nt­nisse gewach­sen zu sein? Nun sollte man das Blatt umdrehen und fra­gen: Welche beson­deren Fähigkeit­en bringt der Men­sch – und nur er! – mit, die es ihm ermöglichen,

  • ver­streutes Einzel­wis­sen in Zusam­men­hän­gen zu erfassen,;
  • Wis­sen entsprechen echt­en Bedürfnis­sen zu nutzen.

Macht man den begren­zten Men­schen zum Maß der gren­zen­losen Infor­ma­tion, sieht er sich als ihr Nutzer, nicht aber als ihr Meis­ter, dann bah­nt sich ein völ­lig neues Ver­ständ­nis für die Rolle des Wis­sens an. Es wird nun der autoritäre Anspruch auf das Erfassen und die Kon­trolle alles Gewussten aufgegeben, es heißt Abschied­nehmen von dem untauglichen Ver­such, die uner­schöpfliche Vielfalt der Wirk­lichkeit in Wort- und Bildsym­bole zu pressen, die stets zu eng und zu dürftig sein müssen.

Damit die atom­isierte Welt der Spezial­is­ten wieder zusam­menwach­sen kann, wird man in Zukun­ft zahlre­iche Per­sön­lichkeit­en brauchen, die hin­ter dem Zer­ris­se­nen etwas Zusam­men­hän­gen­des ver­muten und danach zu suchen begin­nen. Sie müssen gestörte Verbindun­gen wieder­her­stellen, zer­ris­sene Net­ze neu knüpfen, Getren­ntes zueinan­der­führen und damit unüber­sichtlich Ver­streutes wieder überse­hbar machen. Es gibt erst wenige Men­schen dieses Typs. Ich möchte sie die “neuen Enzyk­lopädis­ten” nen­nen, und ich meine, sie wer­den entschei­dend dazu beitra­gen, dass wir über­leben, dass wir über­haupt eine Zukun­ft haben.

Es wäre eine dringliche Auf­gabe der “neuen Enzyk­lopädis­ten”, die Denk- und Anschau­ungsweisen der Kul­turen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas für ihr Denken frucht­bar zu machen. Sie müssten ver­suchen, die vom “männlichen Chau­vin­is­mus” ver­achtete Art der Frauen, das Leben zu begreifen, endlich ernst zu nehmen. Zu lange schon sind Gefühl, Empfind­lichkeit, Zärtlichkeit ver­drängt wor­den. Und schließlich wer­den die “neuen Enzyk­lopädis­ten” ler­nen müssen, jenen Zahllosen zuzuhören, die bis jet­zt fast nie dazu kamen, ihre eige­nen Gedanken, Ideen, Visio­nen zu artikulieren, weil man ihnen das Sel­ber-Entwer­fen, Sel­ber-Pla­nen, Sel­ber-Sprechen nicht zutraute.

In: Die “neuen Enzyk­lopädis­ten”. Enzyk­lopädie der Zukun­ft. Hg. von Robert Jungk u.a. Bd. 1, 1978, S. II, IIIIV


1978
Wer heute ern­sthaft bess­er funk­tion­ierende, gerechtere, den Auf­gaben der Zeit entsprechende gesellschaftliche Ein­rich­tun­gen und Ver­hält­nisse anstrebt, kann dieses Ziel nur noch durch die geistige Bee­in­flus­sung und Her­anziehung aller, der Herrschen­den wie der Beherrscht­en zu erre­ichen tra­cht­en. Das Wort ist die einzige Wun­der­waffe, die schließlich alle Abschir­mungen durch­drin­gen kann. Keine tech­nis­che Erfind­ung, wed­er die Atom­kraft noch die Raum­fahrt, wed­er die kyber­netis­chen Geräte noch die immer präzis­er wer­den­den Ein­griff­s­möglichkeit­en der Biolo­gie kön­nen der Men­schheit ein Über­leben und Weit­er­leben ermöglichen, son­dern allein der analysierende, deu­tende, ord­nende, entwer­fende Logos.

In: Deutsch­land ohne Konzept. Mod­elle für eine neue Welt. 1978, S. 115 f.


1978
Wir alle haben uns viel zu sehr daran gewöh­nt zu ver­all­ge­mein­ern, und wir vergessen, dass in der Tat — wie Flaubert sagte — “der gute Gott im Detail lebt”. Klis­chee­denken und Klis­cheesprache sind auch bei manchen Kri­tik­ern der Ver­hält­nisse ein­geris­sen.

Aber das Ganze und das Kom­mende wer­den nur erkan­nt wer­den, wenn sie auf genauer Beobach­tung der in Mil­liar­den Einzel­heit­en sich darstel­len­den Wirk­lichkeit grün­den. Die Verächter solch­er indi­vidu­ellen Real­itäten müssen zu Fehlschlüssen kommen.

In: Über­all ist Wyhl. Hg. Wolf­gang Stern­stein. 1978. S. 3–6


1978
Wie kön­nte es anders sein? Die geistige Vor­bere­itungsar­beit für eine kün­ftige Gesellschaft ist eben­so autoritär gelenkt und fremdbes­timmt wie die Arbeit im gegen­wär­ti­gen Pro­duk­tion­sprozess. Die Ent­frem­dung des Bürg­ers gegenüber der Zukun­ft ist sog­ar eher noch größer als die gegenüber sein­er Arbeit, denn er kommt sich ” zu klein”, “zu unwis­send”, zu ohn­mächtig” vor, um über so “ferne” und “hohe” Ziele mitre­den zu kön­nen. Und dies, obwohl doch ger­ade seine Erfahrun­gen und die daraus erwach­senden Wün­sche für die For­mulierung dieser Ziele unverzicht­bar sind. Aber wo und wie kön­nte er sich ein­brin­gen? Wer fragt ihn danach? Wann und mit wem kön­nte er darüber sprechen?

Die krisen­re­iche Geschichte der zu erwartenden Zukun­ft wird also Zukun­ftswerk­stät­ten auf vie­len Ebe­nen der Gesellschaft erzwin­gen, ganz egal, ob wir diese Tätigkeit des sozialen Erfind­ens so oder ganz anders nen­nen wer­den. Eine Demokratisierung des utopis­chen Denkens wird notwendig. Dieser Demokratisierung käme ent­ge­gen, wenn der Förderung der Phan­tasie eines jeden Einzel­nen schon heute in den Schulen min­destens soviel Aufmerk­samkeit gewid­met würde wie dem Erwerb von Wis­sensstoff. Aber da wir wis­sen, dass die Verän­derun­gen von Lehrplä­nen fast so schw­er ist wie das Ver­set­zen ganz­er Gebirge, soll­ten wir mit der Einübung der sozialen Phan­tasi­etätigkeit wenig­stens bei den Erwach­se­nen begin­nen, ehe sie vol­lends in Pas­siv­ität und Res­ig­na­tion versinken.

In: Statt auf den großen Tag zu warten …, Kurs­buch 53, Sep­tem­ber 1978, S. 1, 10

Biografie von Robert Jungk

1913
Am 11. Mai in Berlin als Sohn ein­er jüdis­chen Kauf­manns­fam­i­lie geboren, ent­ging er mit 20 Jahren nur knapp der Ver­haf­tung durch die Nazis, ver­ließ Deutsch­land, baute einen antifaschi­sis­chen Presse­di­enst auf und wurde in der Schweiz interniert.

1945
Robert Junk arbeit­ete als Kor­re­spon­dent für ange­se­hene Zeitun­gen und berichtete u.a. aus den USA.

1957
ließ er sich mit sein­er Frau Ruth und Sohn Peter Stephan in Wien nieder und wird — nach Erfahrun­gen meherer Hiroshimabesuche — zu einem führen­den Vertreter der Anti-Atom- und der Friedens­be­we­gung. Zen­trales The­ma seines pub­lizis­tis­chen Wirkens ist die Zukun­ft, die, so seine Überzeu­gung, von möglichst vie­len Men­schen mit­gestal­tet wer­den sollte. Als Begrün­der der “Sozialen Zukunftsforschung“

1970
lehrt an der FU Berlin und lebte seit diesem Jahr in Salzburg, wo viele sein­er Büch­er entstanden.

1985
Robert Junk grün­det die “Inter­na­tionale Bib­lio­thek für Zukunftsfragen“.

1986
bekam “Bob“ Jungk einen Alter-
nativ­en Nobelpreis.

1994
Am 14. Juli stirbt Robert Junk in Salzburg, wo er am Jüdis­chen Fried­hof begraben ist