Rudi Dutschke
Rudi Dutschke diskutierte in der Werksatt über eine Gesellschaft mit dem Antlitz des Menschen.
Das Denken von Rudi Dutschke
Grundposition
Dutschke verstand sich seit seiner Jugendzeit als antiautoritärer demokratischer Sozialist. In seiner Studienzeit entwickelte er sich zu einem überzeugten revolutionären Marxisten in der Nachfolge des ungarischen Philosophen Georg Lukacs. Ähnlich wie dieser betonte er die “libertären”, oft vergessenen Traditionen der Arbeiterbewegung sowohl gegen den Reformismus wie auch den Stalinismus.
Dutschkes Ziel war die “totale Befreiung der Menschen von Krieg, Hunger, Unmenschlichkeit und Manipulation” durch eine “Weltrevolution”. Mit dieser radikalen Erlösungsutopie knüpfte er an den christlichen Sozialismus seiner Jugend an, auch wenn er nicht mehr an einen persönlichen, transzendenten Gott glaubte. 1978 bekannte er bei einem Treffen mit Martin Niemöller:
“Ich bin ein Sozialist, der in der christlichen Tradition steht. Ich bin stolz auf diese Tradition. Ich sehe Christentum als spezifischen Ausdruck der Hoffnungen und Träume der Menschheit.”
Ausdruck der Verbindung beider Traditionen war die lebenslange Freundschaft zu Helmut Gollwitzer und der Doppelname seines ersten Sohnes “Hosea-Che”, der auf den biblischen Propheten Hosea und den kubanischen Guerilla-Kämpfer Che Guevara anspielte.
Ökonomische Analyse
Dutschke versuchte, die marxsche “Kritik der politischen Ökonomie” auf seine Gegenwart anzuwenden und weiterzuentwickeln. Er sah das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland als Teil eines weltweiten komplexen Kapitalismus, der alle Lebensbereiche durchdringe und die lohnabhängige Bevölkerung unterdrücke. Die soziale Marktwirtschaft beteilige das Proletariat zwar am relativen Wohlstand der fortgeschrittenen Industrieländer, binde es dadurch aber in den Kapitalismus ein und täusche es über die tatsächlichen Machtverhältnisse hinweg.
Repräsentative Demokratie und Parlamentarismus waren daher für Dutschke Ausdruck einer “repressiven Toleranz” (Herbert Marcuse), die die Ausbeutung der Arbeiter verschleiere und die Privilegien der Besitzenden schütze. Diese Strukturen sah er als nicht reformierbar an; sie müssten vielmehr in einem langwierigen, international differenzierten Revolutionsprozess umgewälzt werden, der er als „langen Marsch durch die Institutionen“ bezeichnete.
In der Bundesrepublik erwartete Dutschke nach dem Ende des Wirtschaftswunders eine Periode der Stagnation: Die Subventionierung unproduktiver Sektoren wie Landwirtschaft und Bergbau werde künftig nicht mehr finanzierbar sein. Der dadurch absehbare massive Abbau von Arbeitsplätzen werde eine Strukturkrise erzeugen, die den Staat zu immer tieferen Eingriffen in die Wirtschaft veranlassen und in einen „integralen Etatismus“ münden werde: Der Staat werde die Wirtschaft lenken, aber das Privateigentum formal beibehalten. Dieser Zustand sei nur mit Gewalt gegen die aufbegehrenden Opfer der Strukturkrise zu stabilisieren.
Im technischen Fortschritt sah Dutschke Ansatzpunkte für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung: Automatisierung, Computerisierung und Nutzung der Atomkraft zu friedlichen Zwecken lasse die Notwendigkeit der Lohnarbeit zunehmend wegfallen. Damit werde Arbeitszeit freigesetzt, die gegen das “System” aktiviert werden könne. Für den nötigen Umsturz fehle der Bundesrepublik jedoch ein “revolutionäres Subjekt”. Gestützt auf Herbert Marcuse („Der eindimensionale Mensch“) glaubte Dutschke, ein “gigantisches System von Manipulation” stelle “eine neue Qualität von Leiden der Massen her, die nicht mehr aus sich heraus fähig sind, sich zu empören.” Die deutschen Proletarier lebten verblendet in einem “falschen Bewusstsein” und könnten den abstrakten Gewaltzusammenhang des kapitalistischen Staates daher nicht mehr unmittelbar wahrnehmen. Eine “Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche” sei damit “geschichtlich unmöglich geworden.”
Antiimperialistische Gewalt und antiautoritäre Provokation
Dutschke glaubte, die Bedingungen für die Überwindung des weltweiten Kapitalismus seien in den reichen Industriestaaten und der sog. “Dritten Welt” unterschiedlich. Anders als Marx es erwartet hatte, werde die Revolution nicht im hochindustrialisierten Mitteleuropa beginnen, sondern von den verarmten und unterdrückten Völkern der “Peripherie” des Weltmarkts ausgehen.
Im Vietnamkrieg sah er den Beginn dieser revolutionären Entwicklung, die auch auf andere Dritte-Welt-Länder übergreifen könne. Er bejahte dazu ausdrücklich die Gewalt des Vietcong:
„Dieser revolutionäre Krieg ist furchtbar, aber furchtbarer würden die Leiden der Völker sein, wenn nicht durch den bewaffneten Kampf der Krieg überhaupt von den Menschen abgeschafft wird“.
Er teilte hier die antiimperialistische Theorie von Frantz Fanon und Che Guevara, wonach der von „revolutionärem Hass“ geleitete Befreiungskampf der Völker zuerst die „schwächsten Glieder“ in der Kette des Imperialismus zerreißen sollte: „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“.
Dutschke schloss Gewalt auch für die Bundesrepublik nicht aus. Auf die Frage, ob er sich davon distanziere, antwortete er 1968:
„Nein, aber die Höhe unserer Gegengewalt bestimmt sich durch das Maß der repressiven Gewalt der Herrschenden“.
In diesem reziproken Sinn hielt er einen Guerillakrieg in der deutschen Situation nicht für angemessen. Der langfristige Erfolg von Umsturzversuchen in der Dritten Welt hing für ihn davon ab, dass auch den “Massen” in den “Metropolen” des Kapitalismus ihre Unterdrückung bewusst werde. Er glaubte, dass die hiesige antiautoritäre Studentenbewegung diesen Zusammenhang zuerst erkennen würde und die Verblendung des “verbürgerlichten” Proletariats von den Universitäten her allmählich aufbrechen könne.
Schon 1965 verlangte Dutschke dazu: „Genehmigte Demonstrationen müssen in die Illegalität überführt werden. Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich“. Am 21. Oktober 1967 konkretisierte er die Zielrichtung dieser Konfrontation:
„Die Durchbrechung der Spielregeln der herrschenden kap[italistischen] Ordnung führt nur dann zur manifesten Entlarvung des Sytems als ‘Diktatur der Gewalt´, wenn wir zentrale Nervenpunkte des Systems in mannigfaltiger Form (von gewaltlosen offenen Demonstrationen bis zu konspirativen Aktionsformen) angreifen (Parlament, Steuerämter, Gerichtsgebäude, Manipulationszentren wie Springer-Hochhaus oder SFB, Amerika-Haus, Botschaften der unterdrückten Nationen, Armeezentren, Polizeistationen u.a.m.).“
“Organisierte Irregularität”, also systematische Verstöße gegen die Regeln des bürgerlichen Staates sollten diesen zu gewalttätiger Reaktion provozieren. Die “sinnliche Erfahrung” dieser sonst „latenten“ staatlichen Gewalt und Aufklärung darüber sollten gemeinsam das “falsche Bewusstsein” aufheben und die tatsächliche Unfreiheit zunächst bei den Akteuren, dann auch bei deklassierten Arbeitern und Arbeitslosen transparent machen. Der Revolutionär revolutioniere sich damit gleichsam selbst: Dies sei die “entscheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen”.
Die Protestformen der APO setzten diese “antiautoritäre Provokation” zum Teil um und nahmen die Öffentlichkeit zur Politisierung der Bevölkerung in Anspruch. Dazu wurden z.B. Demonstrationsverbote missachtet und vorgeschriebene Demonstrationsorte und ‑routen verlassen. Sitzstreiks, “Go-Ins”, Tomatenwürfe und “Pudding-Attacken” auf Staatsbesucher und Herrschaftssymbole usw. sollten den bürgerlichen Staat zwingen, seine “liberale Maske” abzulegen und die Gewalt offen zu zeigen, die ihm strukturell inhärent sei.
Nach Benno Ohnesorgs Tod schien dieses Konzept aufzugehen: Die Reaktion der Staatsgewalt auf die Proteste entsetzten viele Menschen und motivierten sie zu verstärktem Protest. 1968 erreichte dieser ein Ausmaß, das eine Revolution für viele der damals Beteiligten greifbar nahe zu rücken schien.
Dutschke glaubte wie viele im SDS damals, man könne Staat und Volk in einen zunehmend gewaltsam ausgetragenen Widerspruch treiben und so eine Revolution herbeiführen:
Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte ausgeht (…) Es hängt von unseren schöpferischen Fähigkeiten ab, kühn und entschlossen die sichtbaren und unmittelbaren Widersprüche zu vertiefen und (..) kühn und allseitig die Initiative der Massen zu entfalten.“
Gegen dieses Konzept erhob Jürgen Habermas am 9. Juni 1967 zwei scharfe Vorwürfe: Die Revolution allein von der Entschiedenheit der Revolutionäre abhängig zu machen, wie es die Anarchisten des 19. Jahrhunderts getan hatten, statt gut marxistisch auf die Entwicklung der Produktionsverhältnisse zu setzen, nannte er “Voluntarismus”. Nachgerade als “linken Faschismus” bezeichnete er Dutschkes Vorhaben, „die sublime Gewalt, die notwendig in den Institutionen enthalten ist, manifest werden“ zu lassen: Dadurch würden Faschismustendenzen in Staat und Volk erst geweckt, statt sie verringern. Später bedauerte Habermas seine Wortwahl, hielt den Vorwurf aber der Sache nach aufrecht.
Dutschke dagegen glaubte, nur Gegenwehr könne die Staatsgewalt zurückdrängen und so Menschenleben retten (Tagebuch 10. Juni 1967):
“H[abermas] will nicht begreifen, dass allein sorgfältige Aktionen Tote, sowohl für die Gegenwart als auch noch mehr für die Zukunft ‘vermeiden’ können. Organisierte Gegengewalt unsererseits ist der größte Schutz, nicht ‘organisierte Abwiegelei’ a la H[abermas]. Der Vorwurf der ‘voluntaristischen Ideologie’ ehrt mich…”
Dutschke unterschied Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen; letztere lehnte er zwar nicht prinzipiell, aber für die bundesdeutsche Situation ab. Auch an Gewalt gegen Sachen beteiligte er sich nicht aktiv, wenn er auch Sprengstoffanschläge auf einen Sendemast des amerikanischen Soldatensenders AFN oder ein Schiff mit Versorgungsgütern für die US-Armee in Vietnam mit vorbereitete. Beide Anschläge blieben unausgeführt, teils wegen praktischer Probleme, teils weil Verletzung von Personen nicht ausgeschlossen werden konnte.
Auf die Frage: “Würden Sie für Ihre revolutionären Ziele notfalls auch mit der Waffe in der Hand eintreten?” antwortete er im Dezember 1967:
“Wäre ich in Lateinamerika, würde ich mit der Waffe in der Hand kämpfen. Ich bin nicht in Lateinamerika, ich bin in der Bundesrepublik. Wir kämpfen dafür, dass es nie dazu kommt, dass Waffen in die Hand genommen werden müssen. Aber das liegt nicht bei uns. Wir sind nicht an der Macht. Die Menschen sind sich ihres eigenen Schicksals nicht bewusst … Wenn 1969 der NATO-Austritt nicht vollzogen wird, wenn wir reinkommen in den Prozess der internationalen Auseinandersetzung — es ist sicher, dass wir dann Waffen benutzen werden, wenn bundesrepublikanische Truppen in Vietnam oder anderswo kämpfen — dass wir dann im eigenen Lande auch kämpfen werden.”
Während er dies nach seinem Attentat nicht wiederholte, hielt er an der Aufklärung durch auch irreguläre Aktionen fest. Im Rückblick sah er sein Konzept durchaus als wirksam an (Tagebuch 4. März 1974): “Nach dem Vietnam-Kongress war der Höhepunkt der faschistoiden Tendenz bald beseitigt.”
Verhältnis zum Terrorismus
Dutschke grenzte sich als antiautoritärer Marxist stets von allen “Kader”-Konzepten ab, die sich von der Bevölkerung isolierten und deren Bewusstwerdung verhinderten. Ebenso kritisch stand er auch dem “Individualterror” gegenüber, der nach dem Zerfall des SDS seit 1970 von verschiedenen linksradikalen Gruppen wie den „Tupamaros Westberlin“ oder der RAF verübt wurde.
Am 9. November 1974 starb das RAF-Mitglied Holger Meins an einem Hungerstreik im Gefängnis. Bei seiner Beerdigung rief Dutschke mit erhobener Faust: “Holger, der Kampf geht weiter!” Auf die heftige Kritik daran reagierte er nach dem Mord an Günter von Drenkmann mit einem Leserbrief an den Spiegel, in dem er erklärte:
“ ‘Holger, der Kampf geht weiter’ — das heißt für mich, dass der Kampf der Ausgebeuteten und Beleidigten um ihre soziale Befreiung die alleinige Grundlage unseres politischen Handelns als revolutionäre Sozialisten und Kommunisten ausmacht. […] Die Ermordung eines antifaschistischen und sozialdemokratischen Kammer-Präsidenten ist aber als Mord in der reaktionären deutschen Tradition zu begreifen. Der Klassenkampf ist ein Lernprozess. Der Terror aber behindert jeden Lernprozess der Unterdrückten und Beleidigten.”
In einem Privatbrief an den SPD-Bundestagsabgeordneten Freimut Duve vom 1. Februar 1975 erklärte Dutschke sein Auftreten an Meins´ Grab für zwar „psychologisch verständlich“, politisch aber „nicht angemessen reflektiert“.
Am 7. April 1977, dem Tag des Mordes an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, notierte er in sein Tagebuch:
“Der Bruch der linken Kontinuität im SDS, die verhängnisvollen Auswirkungen werden erkennbar. Was tun? Die sozialistische Partei wird immer unerlässlicher!”
Er sah nun eine Parteigründung links von der SPD als notwendige Alternative zum Terrorismus an.
Im “Deutschen Herbst” 1977 wurde vielen Linksintellektuelle vorgeworfen, sie hätten den “geistigen Nährboden” der RAF geschaffen. In der “Zeit” vom 16. September gab er den Vorwurf an die “herrschenden Parteien” zurück und warnte vor den Folgen des Terrors:
“Der individuelle Terror [führt] später in die individuelle despotische Herrschaft, aber nicht in den Sozialismus.”
Dennoch griff ihn z.B. die Stuttgarter Zeitung vom 24. September des Jahres persönlich als Wegbereiter der RAF an:
“Es ist Rudi Dutschke gewesen, der…gefordert hatte, das Konzept Stadtguerilla müsse hierzulande entwickelt und der Krieg in den imperialistischen Metropolen entfesselt werden.”
Dagegen meinte Dutschke, das Attentat auf ihn habe ein “geistiges, politisches und sozialpsychologisches Klima der Unmenschlichkeit” hervorgerufen (Nachlass, 2. August 1978), und betonte nochmals:
“Individueller Terror […] ist massenfeindlich und antihumanistisch. Jede kleine Bürgerinitiative, jede politisch-soziale Jugend‑, Frauen‑, Arbeitslosen‑, Rentner- und Klassenkampfbewegung […] ist hundertmal mehr wert und qualitativ anders als die spektakulärste Aktion des individuellen Terrors.”
Verhältnis zum Staatskommunismus
Für Dutschke waren Demokratie und Sozialismus untrennbar miteinander verbunden. Die Verfügung der Arbeiter über die Produktionsmittel sollte das Erbe der französischen Revolution, die “bürgerlichen” Freiheitsrechte, bewahren und die freie Entfaltung des Individuums ermöglichen und erweitern.
Deshalb grenzte er sich seit 1956 gegen den Leninismus der Sowjetunion und der von ihr beherrschten Staaten ab. Er sah diesen als doktrinäre Entartung des genuinen Marxismus zu einer neuen “bürokratischen” Herrschaftsideologie. Er forderte und erwartete seit dem 17. Juni 1967 auch im Ostblock eine durchgreifende Revolution zu einem selbstbestimmten Sozialismus. Im SDS setzte er sich intensiv mit den DDR-Sympathisanten und “Traditionalisten” und ihrem an Lenins Konzept einer Kaderpartei angelehnten Revolutionsverständnis auseinander. Ein Stasi-Spitzel im SDS meldete daraufhin in die MFS-Zentrale nach Ost-Berlin, Dutschke vertrete “eine völlig anarchistische Position”; ein anderer IM meldete: “Dutschke spricht ausschließlich vom Scheißsozialismus in der DDR”.
Den “Prager Frühling” begrüßte Dutschke vorbehaltlos. Nach dessen Niederschlagung übte er Selbstkritik, weil der SDS mit der SED gegen den Vietnamkrieg zusammenarbeitet hatte:
“Sind wir gar einem riesigen Fremd- und Eigenbetrug anheimgefallen? […] Warum geht eine SU (ohne Sowjets), die sozialrevolutionäre Bewegungen in der Dritten Welt unterstützt, imperialistisch gegen ein Volk vor, welches selbständig unter Führung der kommunistischen Partei die demokratisch-sozialistische Initiative ergriff? […] Ohne Klarheit an dieser Ecke ist ein sozialistischer Standpunkt der konkreten Wahrheit, Glaubwürdigkeit und Echtheit unmöglich, werden gerade die Unterdrückten, Ausgebeuteten und Beleidigten in der BRD und der DDR im besonderen nicht bereit sein, über Lohnkämpfe hinaus in den politischen Klassenkampf einzusteigen.”
Eine Zeitlang begrüßte Dutschke Mao Zedongs Kulturrevolution wie auch die Roten Khmer unter Pol Pot als Beitrag zur erhofften Entbürokratisierung des Staatskommunismus und zur Überwindung der “asiatischen Produktionsweise”. Doch schon 1968 grenze er sich unter dem Einfluss von Ernest Mandel vom Maoismus ab. Von den nun entstehenden K‑Gruppen, die sich kritiklos an China oder Albanien anlehnten, distanzierte er sich ebenfalls.
Dutschkes Dissertation (Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, 1974) erklärte die Ursachen der sowjetisch-chinesischen Fehlentwicklung im Gefolge Karl August Wittfogels mit der marxistischen Gesellschaftsanalyse. Er vertrat hier die Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution in Russland nie bestanden hätten, und nahm stattdessen eine ungebrochene Kontinuität der “asiatischen Despotie” von Dschingis Khan bis zu Stalins Zwangskollektivierung und Zwangsindustrialisierung an. Während Lenin 1905 noch für die Entfaltung des Kapitalismus in Russland plädiert habe, damit dort eine echte Arbeiterklasse heranwachsen könne, sei schon sein “Oktoberputsch” von 1917 als Rückfall in die “allgemeine Staatssklaverei” anzusehen. Die Entwicklung von Lenin zu Stalin sei logische Folge des Parteien- und Fraktionsverbots gewesen. Stalins Versuch, die Produktivität der Sowjetunion durch brutale Zwangsindustrialisierung zu steigern, habe ihre Abhängigkeit vom kapitalistischen Weltmarkt nie beseitigen können. Er habe nur einen neuen Imperialismus hervorgebracht, so dass militärische Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und Unterdrückung von selbstbestimmten Sozialismusversuchen im Ostblock eine logische Einheit darstellten.
Der Stalinismus sei manifester “Anti-Kommunismus”, der eine “Monopolbürokratie” geschaffen habe, die nicht minder aggressiv sei als die “Monopolbourgeoisie”, die Stalin für den deutschen Faschismus verantwortlich machte. Somit sei es kein Zufall, dass seine Gulags und KZs nach 1945 nicht verschwunden, sondern aufrecht erhalten worden seien. Diesen systembedingten, nicht als “Entartung” der Politik Lenins zu begreifenden Charakter der Sowjetunion hätten auch Leo Trotzki, Bucharin, Karl Korsch, Rudolf Bahro, Jürgen Habermas und andere marxistische Kritiker und Analytiker nicht voll erkannt.
Der isolierte “Sozialismus in einem Land” sei eine “antidynamische Sackgassenformation”, die sich nur noch durch Kredite und Importe aus dem Westen am Leben erhalten könne. Alle ihre scheinbaren inneren Reformanläufe seit Chrustschow und dem XX. Parteitag 1956 seien nur Mittel zum Überleben der ZK-Bürokratie gewesen:
“Von pseudo-linker, gutgemeinter moralisch-romantischer Position kann man es gutheißen, Produktionsweisen zu ‘überspringen’, mit einem sozialistischen Standpunkt hatte (und hat) die Moskauer Position desgleichen wie die Pekinger nie etwas zu tun.”
Aufgrund dieser eindeutigen Haltung galt Dutschke der Stasi bis zum Ende der DDR 1990 als Autor jenes “Manifests des Bundes Demokratischer Kommunisten”, das der Spiegel im Januar 1978 veröffentlichte. Es forderte wie seine Dissertation den Übergang von der asiatischen Produktionsweise des bürokratischen “Staatskapitalismus” zur sozialistischen Volkswirtschaft, von der Ein-Parteien-Diktatur zu Parteienpluralismus und Gewaltenteilung. Erst 1998 stellte sich der wahre Autor (Hermann von Berg, ein Leipziger SED-Dissident) heraus.
Verhältnis zum Parlamentarismus
Dutschke lehnte die repräsentative Demokratie in den sechziger Jahren entschieden ab, weil er das Parlament nicht als Volksvertretung ansah. In einem Fernsehinterview erklärte er am 3. Dezember 1967:
„Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar. Das heißt, wir haben in unserem Parlament keine Repräsentanten, die die Interessen unserer Bevölkerung — die wirklichen Interessen unserer Bevölkerung — ausdrücken. Sie können jetzt fragen: Welche wirklichen Interessen? Aber da sind Ansprüche da. Sogar im Parlament. Wiedervereinigungsanspruch, Sicherung der Arbeitsplätze, Sicherung der Staatsfinanzen, in Ordnung zu bringende Ökonomie, all das sind Ansprüche, die muss aber das Parlament verwirklichen. Aber das kann es nur verwirklichen, wenn es einen kritischen Dialog herstellt mit der Bevölkerung. Nun gibt es aber eine totale Trennung zwischen den Repräsentanten im Parlament und dem in Unmündigkeit gehaltenen Volk.“
Um diese Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten zu überwinden, sprach er sich für eine Räterepublik aus, die er in West-Berlin vorbildhaft aufbauen wollte. Wie in der Pariser Kommune sollten sich auf der Basis selbstverwalteter Betriebe Kollektive von höchstens dreitausend Menschen bilden, um ihre Angelegenheiten im herrschaftsfreien Diskurs, mit Rotationsprinzip und imperativem Mandat ganzheitlich selbst zu regeln. Polizei, Justiz und Gefängnisse würden dann überflüssig. Auch werde man nur fünf Stunden täglich arbeiten müssen.
„Früher war der Betrieb die Ebene, wo das Leben totgeschlagen wurde. Indem die Fabrik unter eigene Kontrolle genommen wird, kann sich in ihr Leben entfalten. Arbeit kann dann Selbsterzeugung des Individuums bedeuten statt Entfremdung.“
Als Keimzellen solcher Kollektive schlug er politische “Aktionszentren” vor, die das studentische Milieu mit der Lebenswelt der Arbeiter vermitteln und andere Formen des Zusammenlebens ausprobieren sollten. Dies fand er später in den Bürgerinitiativen, der Alternativ- und Ökologiebewegung teilweise realisiert.
Vor wie nach dem Attentat grenzte er sich von fast allen bestehenden Parteien ab und suchte ständig nach neuen, unmittelbar wirksamen Aktionsformen. Zugleich fand er aber bei den italienischen Eurokommunisten Geistesverwandte und erwog schon früh die Gründung einer neuen Linkspartei. Doch seine Skepsis gegen eine verselbständigte “revisionistische” Partei-Elite überwog.
Seit 1976 engagierte Dutschke sich für den Aufbau einer ökosozialistischen Partei, die die neuen außerparlamentarischen Bewegungen bündeln und parlamentarisch wirksam werden lassen sollte. Ab 1978 setzte er sich mit anderen für eine grünalternative Liste ein, die an den kommenden Europawahlen teilnehmen sollte. Im Juni 1979 gewann Joseph Beuys Dutschke für gemeinsame Wahlkampfauftritte. Im August wurde er Mitglied der Grünen Liste Bremens, die am 7. Oktober als erster grüner Landesverband die Fünf-Prozent-Hürde übersprang. Damit hatte er sich schließlich dem Parlamentarismus zugewandt.
Bald darauf wurde Dutschke als Delegierter für den Gründungsparteitag der Grünen gewählt. Auf dem Programmkongress in Offenbach trat er in Verbindung mit der “deutschen Frage” für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und damit für ein Widerstandsrecht gegen die Militärblöcke in West wie Ost ein. Dieses Thema warf sonst niemand auf, da es der strikten Gewaltfreiheit widersprach, auf die sich die Mehrheit dann festlegte: Die Grünen wollten damals eine streng pazifistische Antiparteien-Partei sein.
Biografie von Dutschke
1940
7. März: Rudi Dutschke wird in Schönefeld/Mark Brandenburg als vierter Sohn eines Postbeamten geboren.
1958
Nach dem Abitur wird Dutschke aufgrund seiner politischen Einstellung die Erlaubnis zum Studium in der DDR verwehrt.
1958–1960
Ausbildung zum Industriekaufmann im Luckenwalder Volkseigenen Betrieb (VEB) “Beschläge”.
1960
Dutschke pendelt nach West-Berlin und wiederholt dort sein Abitur, um in der Bundesrepublik studieren zu können.
1961
Kurz vor dem Mauerbau siedelt Dutschke nach West-Berlin über. Im Wintersemester beginnt er mit dem Studium der Soziologie an der Freien Universität Berlin.
1962/63
Mitbegründer der “Subversiven Aktion”, die sich 1964 dem “Sozialistischen Deutschen Studentenbund” (SDS) anschließt.
1965
Februar: Dutschke wird in den politischen Beirat des West-Berliner SDS gewählt.
ab 1966
Teilnahme an Demonstrationen unter anderem gegen den Vietnamkrieg, gegen die Notstandsgesetze und gegen die Bildung der Großen Koalition. Innerhalb der Studentenbewegnung organisiert Dutschke nach dem Motto “ohne Provokation werden wir überhaupt nicht wahrgenommen” zahlreiche Demonstrationen und Aktionen gegen das sogenannte “Establishment”.
Dutschke ruft zur Bildung einer außerparlamentarischen Opposition auf.
Heirat mit Gretchen Klotz. Aus der Ehe gehen die Kinder Hosea Ché ( geb. 1968) und Polly Nicole (geb. 1969) hervor.
1967
2. Juni: Bei der Demonstration gegen den Besuch des Schah von Iran wird der Student Benno Ohnesorg erschossen. Bei den folgenden Initiativen entwickelt sich Dutschke immer mehr zum Anführer des “antiautoritären Lagers” innerhalb des SDS. Dutschke nimmt außerdem am Hungerstreik für den inhaftierten Kommunarden Fritz Teufel teil, diskutiert öffentlich mit dem Sozialwissenschaftler Herbert Marcuse und gibt ein Fernseh-Interview mit Günter Gaus.
Dutschke wird zu einem der Organisatoren der “Springer-Kampagne”, die die Enteignung des Verlegers Axel Springer fordern.
Er gilt als Theoretiker und Reflektierer. Von den terroristischen Aktionen grenzt er sich deutlich ab und bezeichnet sie später auch als “Zerstörung der Vernunft”.
1968
Mitorganisator des Internationalen Vietnam-Kongresses in West-Berlin.
Während des sogenannten Prager Frühlings reist Dutschke nach Prag.
11. April: Dutschke wird von einem jungen Hilfsarbeiter, dem rechtsextreme Tendenzen nachgesagt werden, niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. Die Tat wird dem Springer-Konzern angelastet. Es folgen national wie international große Protestkundgebungen. Dutschke reist nach schweren Operationen zu einem Erholungsaufenthalt in die Schweiz, danach nach Italien sowie nach Großbritannien.
1969
Dutschke wird aus Großbritannien ausgewiesen, erhält aber nach einem kurzen Aufenthalt in Irland erneut Einreiseerlaubnis und lebt in einer Wohngemeinschaft in London.
1970
Studium an der Universität Cambridge bis Dutschke wegen angeblicher “subversiver Tätigkeit” erneut aus Großbritannien ausgewiesen wird.
1971
Ausreise nach Dänemark, wo er als Dozent an der Universität Aarhus tätig wird.
1972
Wiederholt Reisen in die Bundesrepublik und nach West-Berlin.
1973
Teilnahme an einer Bonner Anti-Vietnam-Demonstration bei der er seine erste öffentlich Rede nach dem Attentat hält.
Promotion an der Freien Universität Berlin im Bereich Soziologie zum Dr. phil. Das Thema seiner Arbeit lautet: “Zur Differenz des asiatischen und westeuropäischen Weges zum Sozialismus”.
1974
Veröffentlichung einer popularisierten Form seiner Dissertation über den ungarischen Marxisten Georg Lukács. In dem Buch beschreibt Dutschke seine Vorstellung von einem deutschen Weg zum Sozialismus, ohne Führungsanspruch aus Moskau, Ost-Berlin oder Peking.
1975
Mitarbeit an einem Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Freien Universität Berlin über einen Vergleich der Arbeitsverfassungen in der Bundesrepublik, der DDR und der UdSSR.
Dutschke reist verschiedene Male in die DDR, wo er unter anderem Kontakt zu Wolf Biermann und Robert Havemann aufnimmt.
ab 1976
Bei Aufenthalten in Norwegen und Italien hält Dutschke Vorträge zu den Themen Berufsverbot, Menschenrechte und Osteuropa. Mit Fernsehauftritten und Reden wird er auch in der Bundesrepublik wieder verstärkt politisch aktiv.
1977
Dutschke schreibt für verschiedene linke Zeitschriften, nimmt an der Anti-Atomkraft-Demonstration in Brockdorf teil und wird im Wintersemester 1977/78 Gastdozent an der Universität Groningen in den Niederlanden.
1978 und 1979
Teilnahme am ersten und zweiten Russel-Tribunal über die Menschenrechte in der Bundesrepublik. Desweiteren engagiert Dutschke sich für die Grünen.
1979
24. Dezember: Rudi Dutschke stirbt unerwartet nach einem Schwächeanfall, einer Spätfolge des Attentats, in Aarhus/Dänemark.
1980
Sein Sohn Rudi-Marek wird geboren.
(iz)